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In diesem Beitrag geht es um das Reisen als Sexarbeiterin und daher weigere ich mich vehement...

...das Wort "Wanderhure" in die Überschrift zu setzen. Wo sind wir denn hier? Ich bin doch keine Kalauerkokotte!

Na jedenfalls: Ein offener Brief an meine Kundschaft außerhalb von Berlin.


Liebe "Kund*innen",

der offene Brief ist in den vergangenen Jahren etwas in Verruf geraten. Spätestens, seitdem deutsche Schauspieler*innen dieses Medium wählten, um ihre Bedenken bezüglich des Schutzes vor der Corona-Pandemie in die Öffentlichkeit zu melodramatisieren, ist sein Ansehen zurecht aufs scheußlichste ramponiert. Ich wähle dieses Mittel trotzdem. Denn anders seid ihr für mich nicht mehr erreichbar. Ich habe eure Adresse nicht. Vermutlich habe ich nicht mal eure echten Namen. Nur eine Handynummer ist mir geblieben von unserer liaison impossible. Das nie endende Freizeichen in meinem Hörer, es liefert den Soundtrack zur unendlichen Zahl meiner Enttäuschungen. Doch beginnen wir ganz von vorn. Beginnen wir beim Reisen.


Typisches Neubauhaus
So wohnen die ärgsten Verbrecher*innen im Deutschland der 20er Jahre (Symbolbild)

Einer der Vorzüge, den mir meine Arbeit bietet, ist die Möglichkeit, die Arbeitsplätze zu wechseln wie meine Sexualpartner*innen. Heute Berlin, morgen Hamburg, und übermorgen Schwarze Pumpe. Jetset in Deutschland, das heißt Leben zwischen den Extremen. Nämlich zwischen extrem hässlich und ganz schön. Ich weiß das zu schätzen. In einem Land, in dem Jan Josef Liefers als Superstar gilt, da findet man selbst im trostlosesten Siedel Hoffnung, da sieht man die Schönheit in fragwürdigen Weilern und versiegelten Fußgängerzonen. Die Suchende, sie findet das Interessante im Unscheinbaren. Ohne quer durch das Land zu mäandern hätte ich beispielsweise nie erfahren, dass die 600-Einwohner*innen-Gemeinde Memleben sich 1991 zur Wahl der neuen Hauptstadt der Bundesrepublik bewarb. Und welche ist die flächenmäßig drittgrößte Stadt der BRD? Genau. Gardelegen! So was ist doch Qualitätswissen! Wikipedia auf dem Smartphone und Deutschland zieht am Fenster vorbei, das ist was ich brauche, das ist was ich will.


Wie lang, liebe Kund*innen, waren unsere Bedürfnisse aufeinander abgestimmt in wunderbarster Symbiose? Ihr bucht euch eine schöne Zeit mit mir, ich reise durch die Gegend und habe im schlimmsten Fall bloß die Spesen wieder drin, im besten Fall noch genug verdient, um meine Lebenshaltungskosten zu decken. Doch seit geraumer Zeit haben dicke Wolken den eitel Sonnenschein verdunkelt. Und diese dicken, fiesen, nervigen, hässlichen Wolken, sie sind gemacht aus eurer verfickten Unzuverlässigkeit. Was ist los mit euch, Kund*innen? (#notallcustomers) Reißt ihr euch nicht am Riemen, dann reise ich nicht mehr. Dann versauert ihr tamaralos in irgendeiner Stadt, die nicht Berlin ist. Dit kann keener woll'n!



Mehrfamilienhaus der WGG Gardelegen
Memleben, Gardelegen oder Schwarze Pumpe? Egal, Hauptsache irgendwo unterwegs.


Mir ist klar, dass ich hier kein sexarbeitsspezifisches Problem schildere. In der Gastronomie bleiben die Wirt*innen allein vor leeren, reservierten Tischen stehen, in sämtlichen Branchen verkommen gebuchte Termine mehr und mehr zu Zwangspausen im Arbeitsalltag. Es scheint, dass die Egomanie stärker um sich greift als Erol Sander nach Drehbüchern für ZDF-Fernsehfilme. Der Egomane möchte sich alle Möglichkeiten offenhalten. Er bucht Termine auf Vorrat, er möchte können oder gekonnt haben. Er möchte sich nicht rechtfertigen oder entschuldigen müssen. Er fühlt sich weltmännisch und ist doch nur ein kleinkarierter Großkotz, der um sich selbst kreisen muss um wenigstens das Gefühl zu haben, es drehe sich etwas um ihn.


Die Zeiten, sie sind scheiße und frustrierend. Mir fällt nicht viel ein, was gerade gut wäre in der Welt oder der Gesellschaft. Wenn wir uns aus Frust darüber nun auch noch gegenseitig die letzte Lebensqualität nehmen, indem wir allen Menschen, die in einem Dienstleistungsgewerbe tätig sind, ihre Lebensgrundlage ohne Not zerstören - dann wird das Leben bald für alle sehr düster und sehr langweilig werden.


Dieser offene Brief richtet sich selbstverständlich nicht an jene, die sich einfach keinen zusätzlichen Spaß leisten können, die gezwungen sind, aus dem letzten Loch zu pfeifen und die Pfennige zusammenzukratzen, die ein kaputtes System für sie erübrigt. Dieser offene Brief richtet sich an die vielen Menschen, die immer noch könnten. Die mehr als genug haben. Naja. Mehr Geld als genug. Aber weniger Menschlichkeit als nötig. Das Reisen gehört zur Sexarbeit dazu. Es ist für viele Sexworker essenziell, um genug Geld zu verdienen. Liebe "Kund*innen", macht das nicht kaputt.


Verfickt nochmal!

Tamara


P.S.: An dieser Stelle möchte ich mich bei der Kölner Kneipe "Zum Knobelbecher" bedanken, in der mir das "Schocken" beigebracht wurde.

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